Wikipedia kommt ins Gerede . . .

14. April 2023

Dieser Beitrag kommt von einem ehemaligen Mitglied des Ortsvereins Ulrich. Dieses, aus dem Iran stammend, hat vor einiger Zeit seinen Lebensmittelpunkt in den australisch-pazifischen Raum verlegt. Es hat erstaunliche und frustrierende Erfahrungen mit Wikipedia gemacht und hat uns nun in einer Mail gebeten es zu unterstützen. Wir wollen dieser Bitte entsprechen. Seine Mail haben wir etwas gekürzt und anonymisiert. Letzteres wird verständlich wenn diese Mail gelesen wird. Wir haben erst vor kurzer Zeit erleben müssen, dass ein Irandeutscher bei einem Flugzeugzwischenstopp in Arabien entführt, im Iran einem Schauprozess ausgeliefert und zum Tode verurteilt wurde.

Der Inhalt wirft einen dunklen Schatten auf Wikipedia, dem nicht nur Eurozentrismus vorgeworfen wird sondern auch eine Unterwanderung durch Mitarbeiter des iranischen Geheimdienstes stillschweigend hinzunehmen.

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Liebe Freunde,

ich hoffe, diese Email erreicht Euch bei bester Gesundheit. Falls Euch das Ganze eigenartig vorkommen sollte, dann versichere ich Euch, dass ich selber genauso überrascht reagiert habe. Ich war zwar zuvor selber gewarnt worden, dass genau das passieren könnte, weshalb ich auch so viele Jahre anzugehen nichts getan hatte, aber vor wenigen Wochen entschloss ich mich doch einen Wikipedia- Eintrag über einen Freund anzugehen. Vor Jahren begegnete mir ein Artikel eines iranischen Künstlers, der mit dem Vermerk der Löschung des Artikels auf der Seite, meine Aufmerksamkeit erregte. Der Artikel war kurz und nichts davon erschien falsch oder irreführend zu sein. Vielmehr waren selbst sämtliche politische Aspekte ignoriert worden. Da stand nichts mehr über die Foltererfahrungen der Person, Gefängnissaufenthalte oder selbst einfachste Bezüge zu Hintergrund einer diktatorischen Beeinflussung seines Lebens. Irgendwann war der Artikel tatsächlich weg. Da ich aus der Studienzeit jemanden kannte, der regelmäßig Beiträge für Wikipedia überarbeitete, fragte ich ihn, was da los war. Da meinte er, irgendwelche Regularien seien wohl nicht eingehalten worden, weshalb so eine Seite verschwinden würde. Andere Iraner aber sagten, dass passiert bei unseren Künstlern ständig. Da ist völlig egal, wie kurz oder wie professionell er gemacht wird, da tauchen Administratoren auf und monieren dieses und jenes, bis die Seite gelöscht ist. Die meisten dieser Administratoren gehörten direkt dem iranischen Geheimdienst, so die Iraner, mit denen ich sprach. In Iran wird tatsächlich offen selbst im Fernsehen angegeben, dass man den Krieg gegen die „Gottlosen Feinde der islamischen Republik“ auch im Internet mit allen Mitteln führt. Cyberkrieg wundert nicht wirklich, da alle Nationen und Organisationen, die selbst demokratisch sind, natürlich auf dem Gebiet „kämpfen“ und die Lufthoheit zu erlangen suchen.

Dabei ist die Manipulation von Medien gerade heute so wichtig. Die Ermordung und Unterdrückung von Persönlichkeiten reicht nicht. Man versucht sie mit allen Mittel aus der Geschichte zu radieren, wenn man ihnen nicht etwas unterstellen kann. Diese Wikipedia-Einheiten sitzen weltweit verteilt und arbeiten meist ganz fleißig an sehr normalen Artikeln. Dadurch, dass sie viele Artikel liefern, sammeln sie so viele Wikipedia-Punkte, dass sie bei Wikipedia zu Administratoren werden. Alles ist anonym, weshalb sie als John, Mary, Jamie etc. durchgehen. Deshalb fällt es auch nicht auf, wenn sie zwischendurch auch solche Einträge korrigieren oder zum Löschen vorschlagen. Die Regularien von Wikipedia wurden zwar alle aus besten Gründen erschaffen. Sie funktionieren allerdings nur in einem manipulationsfreien und demokratischen Umfeld.

Das Problem ist sogar etwas komplizierter, da es nicht nur um despotische Einflüsse geht. Ich hatte hier im pazifischen Raum mir Tipps holen wollen. Denn zu Beginn dachte ich, dass vielleicht wirklich durch einige Verbesserungen alles erledigt sein könnte. Man muss ja nicht sofort paranoid reagieren oder die Flinte ins Korn werfen. Ich kenne hier einen älteren und erfolgreichen Maori-Künstler und sprach mit ihm. Ich war völlig überrascht, als ich erfuhr, dass auch sein Artikel gelöscht wurde. Er sprach vom „White Wikipedia“, die keinerlei nicht europäische kulturelle Aspekte zulassen würde. Bei den Maori kann ein Eintrag ohne die Erwähnung von Ahnen und deren Bedeutung gar nicht funktionieren. Es wäre eine Beleidigung und Skandal. Also wurde die Seite gelöscht und er war nicht bereit noch mehr Aufwand in die Sache zu stecken. Denn es erschien ihm, dass so viele rassistisch orientierte Administratoren über die Seite hergefallen waren, dass es keinen Sinn machte. Selbst juristisch war da nichts zu machen, da Wikipedia letztlich ein privates Projekt ist. Er verwies mich dann auf andere Fälle von auch indigenen Künstlern, die auch totgeschwiegen werden. Aber auch Weiße seien betroffen. So z.B. auch der linksorientierte Rod Prosser (ich nenne ihn, da manch einer ihn eventuell kennen könnte. Er hat ein Jahrzehnt auch in Deutschland gearbeitet und kritische Filme gemacht), die vor allem in den 70ern und 80ern hier in N.N. durch mehrere dokumentarische Filme die Friedensbewegung, die Antivietnambewegung, die Antiatombewegung und auch Antimilitarisierungsbewegung begleitet hat. Sämtliche Beiträge über ihn sind nicht mehr existent.
Normalerweise würde man nach all dem sagen, dass es zwar schlimm wäre, aber jeder die Möglichkeit hätte, online andere Wege zu gehen. Wer sich aber mit der Materie intensiver beschäftigt, findet raus, dass Wikipedias Stellung bei Suchanfragen im Internet mit nichts anderem zu vergleichen ist. Wer nicht auf Wikipedia zu finden ist, wird von den meisten Suchmaschinen selbst Google völlig ignoriert. Wikipedia-Artikel sind die Grundlage für alle Suchergebnisse. Wer diese dominiert und manipuliert, kann die öffentliche Meinung nicht nur beeinflussen, sondern im Gänze gestalten.
Das hört sich echt nach einem Schlamassel an. Gibt es also keinen Ausweg?

Widerstand ist aber nicht völlig sinnlos. Der Fall, des iranischen Musikers, der gerade letzte Wochen für das Lied Baraye mit einem Grammy geehrt wurde, zeigt, dass es auch geht. Seine englische Wikipedia-Seite war dermaßen mit Dreck befüllt worden, dass die Welt reagierte. Dutzende Kommentare auf der Seite haben zumindest bis jetzt zu einer Entschärfung geführt. In dem Artikel waren plötzlich Aussagen hinzugefügt worden, die dem iranischen Regime entstammten und ihn diffamierten und selbst seine Inhaftierung wie einen normalen staatlichen Polizeieinsatz gegen einen Kriminellen aussehen ließen. Aussage gegen Aussage wie vor Gericht? Man stelle sich vor, jemand würde so mit Naziopfer umgehen und so tun, als ob nun neben der einen Meinung auch andere gleichwertig wären, (selbst wenn diese die Realität des Naziregimes ignorierten und relativierten); und man diese sagen müsste, ohne zu berücksichtigen, dass Meinungsfreiheit nicht die Verbreitung von Fake-News, Diffamierung oder anderen Nonsens beinhalten darf.

Wikipedia-Artikel sind somit für bestimmte Länder und Kulturen zu einem reinen Witz geworden. Wer auf die englische Seite der iranischen Großstädte geht, findet als Töchter und Söhne der Städte z.T. Schergen des Regimes, während nur ein Bruchteil der Künstler auch genannt wird. Dabei sind die Autoren der Artikel offiziell Amerikaner oder Europäer und selten Iraner!

Die Zensur läuft im Übrigen in Stufen ab. Erst wird die englische Seite eliminiert und danach geht man die anderen Seiten an. Bei meinem Fall habe ich keine Ahnung, mit welcher Gruppe ich es zu tun habe. Ist es wirklich Vavak (iranischer Geheimdienst)? Sind es Rassisten oder Monarchisten? Keine Ahnung. Ich weiß aber, dass die Löschung verhindert werden kann, wenn viele Menschen reagieren. Die Reaktion ist dabei einfacher als man es sich vorstellt. Die Anmeldung bei Wikipedia gehört zu den einfachsten Dingen, die es gibt. Jeder kann sich anonym anmelden. Ein Pseudonym und Emailadresse, die man danach bestätigt und schon kann man Artikeln anpassen oder Kommentare schreiben. Es wird doch möglich sein, dass man Zensur in unserer westlichen Welt verhindert?

Ich danke Euch vor ab und stehe auch für weitere Fragen zur Verfügung.
Liebe Grüße und herzlichen Dank für Eure Solidarität.

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